Am Freitag, dem 17. Februar 2023, demonstrierten etwa 100 Freie Dienstnehmer:innen bei Mjam zum dritten Mal. Die ersten beiden Male im September und Oktober beschleunigten einige Prozesse bei Mjam und die Geschäftsleitung versprach „ein neues Lohnmodell“. Ein weiterer, schlecht besuchter Demo-Versuch im Dezember zeigte, dass die meisten Kolleg:innen wohl geduldig auf die versprochenen Lösungen und das mit 2023 angekündigte neue Lohnmodell warteten. Mjam kam in der Zwischenzeit zumindest mit einem dauerhaften Sonntagszuschlag von 50 Cent pro Bestellung entgegen.
Als Mjam dann das neue Lohnmodell vorstellte, waren viele Kolleg:innen aber verwirrt und enttäuscht. Der Lohn setzt sich zusammen aus:
dem Kilometergeld zum Restaurant
+ 1 € für Pickup
+ Kilometergeld zum Kunden
+ 2,55 € für jeden Drop-off,
+ fallweise Kilometergeld zum nächsten Kunden.
Das wirkt auf viele kompliziert und irritierend, denn der Lohn pro Bestellung erscheint nun weniger, dafür ist das Kilometergeld mehr. Laut Mjam ist der durchschnittliche Gesamtlohn pro Stunde dafür aber zuverlässig höher - wenn man auch Bestellungen mit weiteren Distanzen annimmt. Das wird auch von einem großen Teil der Kolleg:innen bestätigt, aber dennoch von vielen anderen nicht gutgeheißen.
„Keine Acceptance-Rate für Freie Dienstnehmer:innen!“
Rider auf E-Scootern beispielsweise müssen kalkulieren wieviele Bestellungen mit ihrer Batterie möglich sind, sonst könnten sie irgendwo stranden und kommen schwer mit ihrem Fahrzeug nach Hause. Die klassische Radbotin würde jetzt sagen: „Deshalb fährt man lieber mit Pedalen.“ Nicht wenige der Kolleg:innen fahren auf E-Scootern, weil sie durch Unfälle oder Überlastung zB Knie- oder Rückenprobleme haben, aber doch auf diesen Job angewiesen sind. Wenn sie nun nach Distanz bezahlt werden, ist der Kosten-Nutzen-Effekt maximal gleichbleibend, oder ihre Chance auf einen höheren Lohn sehr unbequem zu erreichen.
Und: Wer zu oft eine Bestellung ablehnt, wird auf unbezahlte Pause gesetzt und muss sich erst wieder arbeitsbereit melden.
„Neues Lohnmodell - weniger oder gleicher Lohn?“
Was als scheinbare Neuigkeit für die Kolleg:innen dazukommt: Das Kilometergeld ist für Freie Dienstnehmer:innen sozialversicherungspflichtig. So sagt ein Urteil des VwGH 2005. Das heißt: Weniger Netto vom Brutto. Von dem Kilometergeld, das man für die Verwendung des eigenes Bikes bekommt, wird auch der Beitrag für die Sozialversicherung abgezogen. Man muss es positiv sehen: Immerhin zählt das Kilometergeld auch für die Bemessung von Krankengeld, Arbeitslosengeld, Karenzgeld, oder Pension.
Allerdings: Im Vergleich zum Vorjahr zahlen die Kolleg:innen nun in Relation viel mehr in die Sozialversicherung ein. Warum das so ist, darüber soll hier nicht im Detail gesprochen werden. Der Punkt ist, dass der SV-Beitrag auf die gefahrenen Distanzen im neuen Lohnmodell nicht berücksichtigt wurde und das jetzt die erhoffte Netto-Lohnerhöhung wahrscheinlich ausgleicht. Die tatsächlichen Zahlen werden sich Mitte März herausstellen, wenn alle Kolleg:innen ihre Lohnzettel erhalten haben.
Seitens Mjam hieß es jedenfalls nie „Lohnerhöhung“, sondern immer „neues Lohnmodell“. Eine sichere Erhöhung gab es jedoch beim Mjam-eigenen Mindestlohn: 8,70 € / h werden garantiert.
„Kein Batch-System für Freie Dienstnehmer:innen!“
Große Unzufriedenheit bringt auch das „Batch-System“, das wie ein Ranking funktioniert und die Rider in 5 Gruppen unterteilt. Den zuverlässigen Ridern in Batch 1 wird früherer Zugang zur Schichtplanung gewährt. Wer seine Freiheiten als Freie:r Dienstnehmer:in zu oft wahrnimmt, kann erst später Schichten buchen, und es kann sein, dass dann nur noch wenig lukrative übrig sind oder gar keine mehr. Wer alles richtig macht und zuverlässig ist, hat aber noch keine Garantie auf einen Platz im ersten Batch. Denn es ist eine Reihung, und es können eben nicht alle im ersten Fünftel sein.
Bei schlechter Auftragslage bekommen viele schon in Batch 2 keine Schichten mehr. Das ist für Mjam die praktische Auslagerung des unternehmerischen Risikos.
Glücklich mit Mjam ist also nur etwa ein Fünftel der Flotte. Wer von dem Job leben muss, ist hoffentlich dabei. Wer neu im Job ist, ist für die ersten paar Wochen jedenfalls dabei und bekommt in der Regel einen Newbie-Bonus versprochen. Für Rider die schon länger beschäftigt sind und sich abmühen müssen um einen sicheren Platz in Batch 1 zu haben, ist das ein Schlag ins Gesicht, der ihnen zeigt, wie unfrei und ersetzbar sie sind, wenn sie sich beklagen.
Bei der Demo habe ich viele Geschichten gehört, Screenshots von der App gesehen, auf denen schlecht bezahlte Bestellungen oder ausgebuchte Schichtpläne zu sehen waren, und wurde gefragt, wovon man denn leben soll?
Es mag schon sein, dass es eine wesentliche Zahl an zufriedenen Mjam-Ridern gibt. Aber eine ebenso nicht unwesentliche Zahl hat Stress, auf genügend Schichten und Bestellungen zu kommen, um überhaupt Miete für ihr Zimmer/Bett, Essen und die Kreditraten für das Bike abzahlen zu können.
Alternative Echter Dienstvertrag?
Wenn man mit Freien Dienstnehmer:innen spricht, begründen viele ihre Entscheidung damit, dass man mit Freiem Dienstvertrag mehr verdienen könne.
Der Echte Dienstvertrag bietet fixe Schichten, 14 Gehälter im Jahr und 5 Wochen bezahlten Urlaub, sowie eine Pauschale für die Nutzung des eigenen Smartphones, und 100% Zuschlag an 12 gesetzlichen Feiertagen in diesem Jahr.
Das heißt in Zahlen für eine Vollzeitstelle im Jahr:
14 x 1730 € (Mindestlohn) = ……. 24200 €
12 x 20 € (Handypauschale) = ..…… 240 €
12 x 80 € (Feiertage) = .....…………… 960 €
__________________________________ 25420 € pro Jahr
/ dividiert durch 47 Arbeitswochen zu 40 Stunden:
= 13,52 € Mindestlohn pro Stunde exklusive Kilometergeld.
Das entspricht dem neu errechneten Durchschnittslohn eines Freien Dienstnehmers laut Mjam inklusive Kilometergeld, und ist abhängig von der Auftragslage, ob man überhaupt Schichten bekommt, und natürlich auch ein bisschen von Wartezeiten in Restaurants oder bei den Kund:innen.
Die Mindestlöhne für ein ganzes Jahr zu 40 Wochenstunden und 47 Arbeitswochen:
Freier Dienstvertrag: 16.356 € / Jahr
Echter Dienstvertrag: 25.420 € / Jahr
Durchschnittlohn pro Stunde (3 Bestellungen, 10 km):
Freier Dienstvertrag: ca 13,45 € / h
Echter Dienstvertrag: 15,76 € / h
Flexibilität ist ein teures Gut.
Ja, wer sich ordentlich anstrengt, kann als Freie:r Dienstnehmer:in mehr verdienen, als ein:e Echte:r Dienstnehmer:in. Um das aber wirklich vergleichen zu können, müsste man aber auch Lebensqualität und Stressbelastung in €-Zahlen gießen.
Wahlfreiheit?
Mjam sagt nach Außen immer, dass es den Ridern völlig frei steht, ob sie einen Freien oder Echten Dienstvertrag wählen. Viele sind überzeugt, dass der Freie Dienstvertrag die beste Wahl für sie ist, weil ihre Lebensumstände viel Flexibilität erfordern, weil sie nach 40 Stunden Radfahren noch nicht genug haben, oder schlicht aus ideologischen Gründen, weil "Selbständigkeit" für sie erstrebenswert ist, und besser klingt als "lohnabhängig", ob sie nun real zutrifft oder nur annähernd.
Wer aber Einkommenssicherheit bevorzugt, längerfristig im Job bleiben will und rechnen kann, der entscheidet sich für einen Echten Dienstvertrag. Allerdings ist die Wahl überhaupt nicht mehr frei, wenn man sich einmal - aus Unwissenheit oder auf Anraten von glücklichen, freien Kolleg:innen - für den Freien Dienstvertrag entschieden hat. Viele haben im letzten Jahr versucht, vom Freien auf einen Echten Dienstvertrag zu wechseln. Wenn ihre Anfragen überhaupt beantwortet wurden, wurden sie abgewiesen mit der Begründung, dass man derzeit keine Echten Dienstnehmer:innen suche, dass es derzeit schlicht nicht möglich sei zu wechseln, oder dass man die Anfrage der Kollegin leider nicht berücksichtigen kann. Wer auf eine Warteliste gesetzt wird, wartet vergeblich.
Von einem Echten Dienstvertrag kann man hingegen jederzeit auf ein Freies Dienstverhältnis wechseln (wenn der Aufenthaltstitel es erlaubt).
Hin und wieder hat man aber einfach Glück: Wer es geschafft hat zu einem ED-Vertrag zu wechseln, aber auch wer abgewiesen wurde oder wer es probieren möchte, bitte schreibt dem Betriebsrat eine E-Mail!